Ich stehe bei geschätzten 38°C in einem schwarz ausgeschlagenen Raum im Podewil und sehe einer französisch-argentinischen Performance Gruppe dabei zu, wie sie große, schwarze Latexsäcke mit einer milchigen Flüssigkeit bestreicht. Gleich werden sie in die Säcke steigen, gleich werden die Säcke mit einer Art Staubsauger zu riesigen Kissen aufgepumpt. Als das Publikum sitzt, wird die Luft wieder abgesaugt. Und zwar komplett. Da liegen sie, unter den Scheinwerfern, eingeschweißt in ihren schwarzen Säcken, die von innen nicht zu öffnen sind. Atmen ist nur durch eine Art Strohhalm möglich. Als sie später tanzen, habe ich an einer Stelle das Gefühl, eine der Tänzerinnen steht kurz vor dem Kollaps. Sie hyperventiliert. Teil der Show, wie sich später herausstellt. Das Thema der Performance: Die Grenzen zwischen Tod und Leben ausloten. Das Lebendige im Extremen fühlen. Das kommt mir irgendwie bekannt vor…
Ich kenne viele, die Ihre eigenen Gefühle nur im Extrem spüren können. Der Mann, der nachts mit überhöhter Geschwindigkeit über rote Ampeln auf Kreuzungen fährt und dabei kurz die Augen schließt. Das Paar, das mindestens einmal wöchentlich ein Drama inszeniert bei dem alle Register gezogen werden, inklusive Anschreien, Weglaufen, Festhalten, Schlagen, oft vor Publikum. Die Frau, die auf dem Klo im Club ungeschützten Sex mit einem Fremden hat und sich dann wochenlang vor dem Aids-Test fürchtet… attraktive, intelligente, erfolgreiche Menschen. Im Alltag haben sie alles unter Kontrolle. Sich, ihre Jobs, ihre Beziehungen. Was auffällt: Emotional sind sie geradezu unberührt, Beziehungen wirken oft halbherzig. Die Kontrolle zu haben heißt manchmal auch, sie gar nicht erst abgeben zu können. Kein guter Nährboden für Leidenschaft. Also fehlt dem Alltagsleben meistens das Gefühl, und zwar das große, wahre. Fürchten wir uns davor? Macht uns das Empfinden Angst, oder ist es die Wahrheit?
Um Gefühle wahrzunehmen, wird das Extrem der Ausnahmesituation bemüht. Schlüsselreize wie „Angst“ und „Wut“ lassen für einen Augenblick das Unterbewusstsein ins alltägliche Einerlei. Weil man sich auch an extreme Reize mit der Zeit gewöhnt, muss immer etwas Neues her, es muss mehr sein, andere Grenzen überschreiten. „Zuerst fand ich den Anblick der Latexsäcke ekelhaft und beängstigend,“ sagt einer der Zuschauer im Nachgespräch von Sylphides, „aber dann passierte etwas Seltsames. Je länger ich zusah, desto weniger Abneigung empfand ich. Zum Schluss fühlte ich mich fast angezogen.“ Was passiert bloß mit uns? Und woran liegt das?
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